Lek­tü­re­no­ti­zen 2024 - Ent­de­ckun­gen und Perlen

In mei­nem Le­se­jahr 2024 gab es wie­der ei­ne Men­ge groß­ar­ti­ger Bü­cher, die ich kaum aus der Hand le­gen konn­te, und die Ent­de­ckung ei­ni­ger Au­torIn­nen, de­ren Bü­cher mich si­cher wei­ter­hin be­glei­ten werden.

Ei­ni­ge da­von stel­le ich hier kurz vor, und zwar höchst sub­jek­tiv und oh­ne mich um die An­for­de­run­gen an ei­ne pro­fes­sio­nel­le Re­zen­si­on zu sche­ren. Es han­delt sich viel­mehr um die leicht über­ar­bei­te­ten No­ta­te, die ich wäh­rend und nach dem Le­sen an­ge­fer­tigt habe.

Ich emp­feh­le na­tür­lich im­mer, Bü­cher beim lo­ka­len Buch­han­del zu kau­fen. Wenn das - aus wel­chen Grün­den auch im­mer - nicht mög­lich ist, ra­te ich zu ei­ner Be­stel­lung beim en­ga­gier­ten On­line-Buch­ver­sand, bei­spiels­wei­se bei buch7 (spen­det 75% des Ge­winns an so­zia­le und un­ei­gen­nüt­zi­ge Pro­jek­te), eichendorff21 (der Buch­ver­sand des Per­len­tau­cher)  oder fair­Buch (un­ter­stützt die Kin­der­not­hil­fe).



Bir­git Birn­ba­cher: Wo­von wir leben

Die ös­ter­rei­chi­sche Au­torin und Bach­mann-Preis­trä­ge­rin Bir­git Birn­ba­cher ist ei­ne mei­ner gro­ßen Ent­de­ckun­gen 2024.

Wo­von wir le­ben han­delt von ei­ner jun­gen Frau, die in der ös­ter­rei­chi­schen Pro­vinz auf­wächst. Sie ist die Ich-Er­zäh­le­rin des Ro­mans.  Um der Pie­fig­keit zu ent­flie­hen, macht sie ei­ne Aus­bil­dung zur Kran­ken­schwes­ter und zieht in die Stadt (kann kei­ne be­son­ders gro­ße Stadt sein). Sie ver­wech­selt die Me­di­ka­tio­nen von zwei Pa­ti­en­tin­nen, ei­ne der Pa­ti­en­tin­nen er­lei­det ei­nen ana­phy­lak­ti­schen Schock, über­lebt je­doch oh­ne blei­ben­de Schä­den. Trotz­dem wird die Ich-Er­zäh­le­rin ge­feu­ert, wird da­mit auch ih­re Woh­nung los und muss, da der Stress ihr Asth­ma un­ge­heu­er puscht, vor­läu­fig zu­rück ins Elternhaus.

Als sie im Dorf ein­trifft, muss sie höchst über­rascht fest­stel­len, dass ih­re Mut­ter nicht mehr da ist. Sie hat ih­ren Mann ver­las­sen. Für die Ich-Er­zäh­le­rin be­ginnt nun ei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Le­ben in der Pro­vinz und dem Le­ben ih­rer Mutter.

Recht schma­les Bänd­chen, liest sich gut, aber weil ich abends im Mo­ment so mü­de bin, dass es für höchs­tens 10 Sei­ten reicht, kom­me ich nicht recht voran.

Das hat sich bald ge­än­dert. Ich bin im­mer mehr in die­ses Buch hin­ein­ge­kom­men und konn­te es kaum aus der Hand le­gen. Es en­det un­er­war­tet – und ein biss­chen bit­ter­bö­se. Un­be­dingt mehr le­sen von Bir­git Birnbacher!

Zsol­nay Ver­lag, Wien 2023
ISBN 9783552073357
192 Sei­ten



Tomás Gon­zá­lez: Das sprö­de Licht

Schwie­ri­ges The­ma, groß­ar­ti­ges Buch. Ei­ne Entdeckung!

Ei­ne  Fa­mi­lie mit drei er­wach­se­nen Söh­nen. Der äl­tes­te Sohn ist seit ei­nem Un­fall vom 10. Brust­wir­bel an ab­wärts ge­lähmt und ge­hört zu den dop­pelt Ge­schla­ge­nen, weil er trotz der Läh­mung un­er­träg­li­che Schmer­zen hat. Er hält es ei­ni­ge Jah­re durch, dann ent­schei­det er sich für as­sis­tier­ten Suizid. 

Die Ge­schich­te wird vom Va­ter er­zählt, als der ein al­ter Mann und die Mut­ter schon seit Jah­ren tot ist. Der Va­ter setzt mit sei­ner Er­zäh­lung ein, als der jün­ge­re Sohn sei­nen Bru­der mit dem Au­to hun­der­te von Ki­lo­me­tern durch die USA zu ei­nem Arzt fährt, der be­reit ist, ei­nen as­sis­tier­ten Sui­zid durch­zu­füh­ren. Die Rei­se ist sehr an­stren­gend, und als sie end­lich am Ziel an­kom­men, ver­schiebt sich die An­kunft des Arz­tes meh­re­re Male.

Die bei­den Brü­der un­ter­wegs und der Rest der Fa­mi­lie zu Hau­se ste­hen in ei­nem sehr en­gen Kon­takt mit­ein­an­der. Für al­le ist es ein stän­di­ges Schwe­ben, ein Hin- und Her­ge­ris­sen-Sein zwi­schen der Hoff­nung, dass der Arzt nicht kommt oder der Sohn es sich an­ders über­legt, und dem Wunsch, das Lei­den mö­ge ein En­de haben.

Gon­zá­lez schreibt die­se Ge­schich­te in ei­ner sehr kla­ren, nüch­ter­nen Spra­che, aber nie kalt und emo­ti­ons­los. Ich wer­de un­be­dingt mehr von Tomás Gon­zá­lez lesen.

S. Fi­scher Ver­lag, Frank­furt am Main 2012
ISBN 9783100266057
176 Sei­ten



Ro­bert See­tha­ler: Ein gan­zes Leben

Die­ser schma­le Ro­man war mir schon mehr­fach emp­foh­len wor­den. Nun ha­be ich ihn end­lich ge­le­sen. Ein ab­so­lu­ter Knal­ler! Drei oder vier Aben­de zu lang ge­le­sen, dann war ich durch die 154 Sei­ten durch.

Die Le­bens­ge­schich­te des Seil­bahn­ar­bei­ters An­dre­as Eg­ger, die in ei­nem ab­ge­le­ge­nen ös­ter­rei­chi­schen Al­pen­tal be­ginnt, als Au­tos noch Wun­der­din­ge wa­ren. Ei­ne schnör­kel­lo­se, un­ge­schön­te, er­grei­fen­de Ge­schich­te, die nicht um­sonst auf der Short­list des In­ter­na­tio­nal Boo­ker Pri­ze stand.

Mehr von See­tha­ler le­sen! (Der Tra­fi­kant stammt auch aus sei­ner Feder.)

Han­ser Ber­lin, Ber­lin 2014
ISBN 9783446246454
160 Sei­ten



Sa­sha Ma­ri­an­na Salz­mann: Im Mensch muss al­les herr­lich sein

(2021 zum deut­schen Buch­preis nominiert).

Ein Ro­man über vier ver­wand­te ukrai­ni­sche Frau­en aus drei Ge­ne­ra­tio­nen, der bis in so­wje­ti­sche Zei­ten zu­rück­reicht und sich bis in die deut­sche Ge­gen­wart fortsetzt.

„Zwei Müt­ter, zwei Töch­ter, zer­split­ter­te, mit­ein­an­der ver­hak­te Bio­gra­fien. Vier Frau­en rin­gen mit ih­rer Ge­schich­te auf der Su­che nach Ge­mein­sam­keit, Lie­be und Iden­ti­tät. Im Men­schen muss al­les herr­lich sein ist ein poe­ti­scher und bru­ta­ler Ro­man.“ (aus der Be­spre­chung des DLF, gan­ze Re­zen­si­on hier: https://​www​.deutsch​land​funk​.de/​s​a​s​h​a​-​m​a​r​i​a​n​n​a​-​s​a​l​z​m​a​n​n​-​i​m​-​m​e​n​s​c​h​e​n​-​m​u​s​s​-​a​l​l​e​s​-​h​e​r​r​l​i​c​h​-​1​0​0​.​h​tml)

An­fangs kam ich im Buch nur recht lang­sam vor­an, doch es hat sich schnell zu ei­nem her­vor­ra­gen­den Buch ent­wi­ckelt, das mich in sei­ne At­mo­sphä­re ein­ge­so­gen hat. Es hat mich nicht ge­stört, dass ich manch­mal un­si­cher war, aus wel­cher der ver­schie­de­nen Er­zähl­per­spek­ti­ven ge­ra­de er­zählt wird.

Suhr­kamp Ver­lag, Ber­lin 2021
ISBN 9783518430101
384 Sei­ten



Dör­te Han­sen: Zur See

End­lich stand mal ein aus­leih­ba­res Ex­em­plar des jüngs­ten Ro­mans von Dör­te Han­sen im Re­gal der Stadt­bi­blio­thek! Und dann war ich zu­nächst ent­täuscht, weil ich dach­te, es sein bloß ein Ab­klatsch des vor­her­ge­hen­den Ro­mans. Doch weit ge­fehlt! Das Buch ist so groß­ar­tig wie sei­ne bei­den Vor­gän­ger (Al­tes Land und Mit­tags­stun­de).

Die­ses Mal spielt die Ge­schich­te auf ei­ner klei­nen Nord­see­insel. Dör­te Han­sen er­zählt die Ge­schich­te ei­ner alt­ein­ge­ses­se­nen Fa­mi­lie, die fest auf der In­sel ver­wur­zelt ist – und ir­gend­wie auch ent­wur­zelt. Der Va­ter lebt – nach­dem er die See­fahrt dran­ge­ge­ben hat – als Vo­gel­wart auf ei­ner win­zi­gen vor­ge­la­ger­ten In­sel und taucht so gut wie nie im Fa­mi­li­en­haus auf. Erst als er sei­ne Ar­beit nicht mehr packt (oder in Ren­te ge­schickt wird, ich weiß es nicht mehr), kehrt er zu­rück. Kom­men­tar­los. Und ge­nau­so kom­men­tar­los ak­zep­tiert sei­ne Frau das.

Die Toch­ter ist zu ih­rer Lie­be aufs Fest­land ge­zo­gen, kommt aber re­gel­mä­ßig zu Be­such, weil sie von der In­sel nicht las­sen kann.

Der äl­te­re Sohn ist ein hef­ti­ger Trin­ker, der wie­der ins El­tern­haus zu­rück­ge­kehrt ist (auch er ist ei­ni­ge Jah­re zur See ge­fah­ren). Nach ei­nem Al­ko­hol­ex­zess ver­lässt er das El­tern­haus end­gül­tig. Er hat ge­ra­de Ar­beit und kann da auch pro­vi­so­risch woh­nen. Zur Über­ra­schung al­ler be­rap­pelt er sich lang­sam (den Aus­lö­ser da­für ver­ra­te ich hier nicht).

Der jüngs­te Sohn läuft schon seit Kin­des­ta­gen nur bar­fuß, som­mers wie win­ters. Schu­le war nichts für ihn. Er fin­det sei­nen Weg als Künst­ler, der Strand­gut ein­sam­melt und ver­ar­bei­tet. Er ist Ret­tungs­schwim­mer und schwimmt je­den Tag sei­ne Run­de im Meer, auch som­mers wie win­ters. Und auch hier muss ich ei­ne Lü­cke las­sen, um die Span­nung nicht zu verderben.

Dör­te Han­sens kla­re und zu­gleich ge­schmei­di­ge Spra­che er­zeugt bei mir am lau­fen­den Band ganz un­mit­tel­ba­re Bil­der, und ich kann mich noch lan­ge nach der Lek­tü­re an er­staun­lich vie­le De­tails erinnern.

Zur See ist eins die­ser Bü­cher, bei de­nen das Le­sen sich an­fühlt, wie et­was un­glaub­lich Le­cke­res zu trin­ken. Oder wie in ei­nem groß­ar­ti­gen Film zu ver­sin­ken. Ich war­te vol­ler Un­ge­duld auf Dör­te Han­sens nächs­tes Buch.

Pen­gu­in Ver­lag, Mün­chen 2022
ISBN 9783328602224
256 Sei­ten



Bov Bjerg: Serpentinen

Die­ses Buch hat vor ein paar Jah­ren nicht um­sonst so viel Auf­se­hen er­regt und rei­hen­wei­se hym­ni­sche Be­spre­chun­gen bekommen.

Der Ich-Er­zäh­ler be­sucht mit sei­nem et­wa 7-jäh­ri­gen Sohn die Ge­gend, in der der Er­zäh­ler auf­ge­wach­sen ist. Seit Ge­ne­ra­tio­nen brin­gen sich die Vä­ter in die­ser Fa­mi­lie um. Um die­se Tra­di­ti­on durch­bre­chen zu kön­ne, will der Ich-Er­zäh­ler mehr über die Ge­schich­te sei­ner Fa­mi­lie. herausfinden.

Bjerg wagt un­ge­wöhn­li­che Schreib­wei­sen, Wie­der­ho­lun­gen, Ab­schwei­fun­gen, die sich nach und nach zu­sam­men­fü­gen. Wenn ich abends schon sehr mü­de war, muss­te ich oft fast wie­der an der glei­chen Stel­le wie am Vor­abend an­fan­gen. Es war nicht so ganz leicht, den ro­ten Fa­den in der Hand zu be­hal­ten. Hat mich je­doch nie ge­stört. Tat­säch­lich passt die­ses halb frag­men­ta­ri­sche Er­zäh­len ganz her­vor­ra­gend zum In­halt der Ge­schich­te. Das Buch hat mich sehr schnell ge­packt und bis zum letz­ten Satz nicht mehr losgelassen.

Cla­as­sen Ver­lag, Ber­lin 2020
ISBN 9783546100038
272 Sei­ten


Sa­bri­na Ja­nesch: Sibir

Gu­tes Buch, wenn auch zum En­de hin mit Län­gen und sprach­lich abfallend.

In­ter­es­san­tes The­ma: Die „Rück­kehr“ von Russ­land­deut­schen nach Deutsch­land. Da­bei han­delt es sich zum ei­nen um die Wol­ga­deut­schen, die sich im 18. Jahr­hun­dert auf Ein­la­dung Ka­tha­ri­nas der Gro­ßen an der Wol­ge nie­der­ge­las­sen.  Nach Hit­lers An­griff auf die So­wjet­uni­on ließ Sta­lin sie in Ar­beits­la­ger de­por­tie­ren.  Die zwei­te Grup­pe in Ja­neschs Ro­man sind die Deut­schen, die bis 1945 auf dem Ge­biet des heu­ti­gen Po­len ge­lebt haben.

Bei­de Grup­pen wur­den nach Si­bi­ri­en bzw. Ka­sach­stan um­ge­sie­delt, wo sie un­ter äu­ßerst schwie­ri­gen Be­din­gun­gen über­le­ben muss­ten. Die von Po­len nach Ka­sach­stan zwangs­um­ge­sie­del­ten Deut­schen wur­den in den 1950er-Jah­ren von Ade­nau­er frei­ge­han­delt, die ehe­ma­li­gen Wol­ga­deut­schen ka­men erst nach dem Fall der Mau­er in den 1990er-Jahren.

Die Ich-Er­zäh­le­rin er­zählt die Kind­heits­ge­schich­te ih­res Va­ters, der in den 1950er-Jah­ren nach Deutsch­land kam, und ih­re ei­ge­ne Ge­schich­te als Aus­sied­ler­kind. Die so­ge­nann­ten Aus­sied­ler leb­ten in den für sie er­rich­te­ten Sied­lun­gen stets et­was ab­ge­son­dert von der üb­ri­gen Be­völ­ke­rung. In den 1990er-Jah­ren ka­men die Spät­aus­sied­ler da­zu, als die ers­ten Aus­sied­ler schon fest eta­bliert waren.

Der Teil, der wäh­rend der Kind­heit des Va­ters in Ka­sach­stan spielt, hat mich am meis­ten ge­fes­selt und mir am bes­ten ge­fal­len. Die­ser Teil des Bu­ches hat mir ei­ne ganz frem­de Welt er­schlos­sen und mich dar­an er­in­nert, war­um ich auch Eth­no­lo­gin bin.

Ge­gen En­de des Bu­ches ha­be ich et­li­che Sei­ten über­schla­gen. Es stell­te sich her­aus, dass ich die zum Ver­ständ­nis des Schlus­ses auch nicht brauch­te (als Lek­to­rin hät­te ich un­be­dingt da­zu ge­ra­ten, die­se Sei­ten zu streichen).

Ro­wohlt Ber­lin Ver­lag, Ber­lin 2023
ISBN 9783737101493
352 Sei­ten


Em­ma­nu­el Car­rè­re: Yoga

Kein Ro­man. Auch kein Sach­buch. Eher Car­rè­res Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Yo­ga und der Vi­pas­sa­na-Me­di­ta­ti­on nach jahr­zehn­te­lan­ger Pra­xis. Den Rah­men bil­det ein 10-tä­gi­ges Vi­pas­sa­na-Retre­at, von dem aus Car­rè­re im­mer wie­der abschweift.

Liest sich nicht  sehr schnell. Ich wer­de ei­ne Wei­le brau­chen, um die mehr als 300 Sei­ten zu le­sen. Ich ge­he da­von aus, dass ich das Buch voll­stän­dig le­sen wer­de. Es ist toll!

4 Ta­ge spä­ter: In­zwi­schen liest sich Yo­ga viel schnel­ler. Car­rè­re schreibt fes­selnd und sehr of­fen. Ir­gend­wann ist bei ihm ei­ne bi­po­la­re Stö­rung durch­ge­bro­chen. Auch dar­über schreibt er sehr of­fen und scho­nungs­los sich selbst gegenüber.

Mit der Zeit hat das Buch ei­nen star­ken Sog ent­wi­ckelt, ich konn­te es kaum noch aus der Hand le­gen. Ein sehr klu­ges Buch, das mir so gut ge­fal­len hat, dass ich es mir ge­braucht be­sorgt ha­be, um es sel­ber zu ha­ben (was na­tür­lich ein ziem­li­cher Quatsch ist an­ge­sichts der Bü­cher­sta­pel, die kei­ne Chan­ce mehr auf ei­nen Platz in ir­gend­ei­nem Re­gal haben).

Matthes und Seitz, Ber­lin 2022
ISBN 9783751800587
328 Sei­ten



Ca­ro­li­ne Wahl: 22 Bahnen

Vier Aben­de zu lan­ge ge­le­sen, dann war ich durch. Da­bei weiß ich nicht ein­mal, ob ich es wirk­lich moch­te. An­fangs hat die Spra­che mich ziem­lich ge­nervt. Aus­ge­präg­ter Ju­gend­slang (Das ist voll me­ga usw.) Hat sich spä­ter ge­ge­ben, mich sprach­lich trotz­dem nicht überzeugt.

Und die Ge­schich­te? Ei­ne Ich-Er­zäh­le­rin (Til­da) An­fang 20, die in ei­ner Klein­stadt lebt, in der nächs­ten grö­ße­ren Stadt Ma­the­ma­tik stu­diert und ein Sti­pen­di­um in Ber­lin an­ge­bo­ten bekommt.

Sie hat ei­ne vie­le Jah­re jün­ge­re Schwes­ter (Ida), et­wa 11 Jah­re alt, für die Til­da sich sehr ver­ant­wort­lich fühlt. Die Mut­ter ist Al­ko­ho­li­ke­rin, die Vä­ter ha­ben sich ab­ge­setzt bzw. sind unbekannt.

Til­da jobbt an der Su­per­markt­kas­se, um ihr Stu­di­um zu fi­nan­zie­ren, und zö­gert, das Sti­pen­di­um in Ber­lin an­zu­neh­men, weil sie gro­ße Sor­ge hat, Ida mit der Mut­ter al­lein zu las­sen. Til­da schwimmt. Oft. Und im­mer 22 Bahnen.

Ei­ne zar­te Lie­bes­ge­schich­te mit ei­ner tra­gi­schen Vor­ge­schich­te kommt auch noch dazu.

Ob ich das nächs­te, ge­ra­de er­schie­ne­ne Buch von Ca­ro­li­ne Wahl le­sen möch­te, weiß ich nicht. Bei 22 Bah­nen war es vor al­lem die Kom­bi­na­ti­on Mut­ter - Schwes­ter - Schwim­men, die das Buch für mich in­ter­es­sant ge­macht hat. So ha­be ich ei­ni­ges ak­zep­tiert, was ich der Au­torin nicht ganz ab­ge­nom­men ha­be oder über die ich im­mer wie­der ge­stol­pert bin. 

Ein Bei­spiel: die 22 Bah­nen. 22 Bah­nen kön­nen sehr un­ter­schied­lich lang sein. In ei­nem 25-m-Be­cken sind es 550 m, wenn man je­de Stre­cke von Be­cken­rand zu Be­cken­rand als ei­ne Bahn zählt. Zählt man da­ge­gen ein­mal hin und zu­rück als ei­ne Bahn, schwimmt man auf 1.100 m. In ei­nem 50-m-Be­cken kommt ei­ne dop­pelt so lan­ge Stre­cke her­aus, je nach Zäh­lung 1.000 m oder 2.200 m.

Die­se Un­ge­nau­ig­keit ist kei­nes­wegs ne­ben­säch­lich bei ei­ner so zen­tra­len An­ge­le­gen­heit. Es macht dra­ma­tur­gisch näm­lich ei­nen Un­ter­schied, ob die bei­den zag­haft Ver­lieb­ten 15 Mi­nu­ten oder ei­ne Stun­de ne­ben­ein­an­der her­schwim­men. Die Au­torin ist ganz si­cher kei­ne Schwim­me­rin - und das Lek­to­rat hat vor­bild­lich gepennt.

Du­Mont Buch­ver­lag, Köln 2023.
ISBN-13: 9783832168032

204 Sei­ten


Li­ly King: Wri­ters & Lovers

Ei­gent­lich ma­che ich ei­nen gro­ßen Bo­gen um Ro­ma­ne, die von Schrift­stel­le­rIn­nen han­deln, aber auf Li­ly King war ich so neu­gie­rig, dass ich mir die­ses Buch trotz­dem in der Stadt­blio­thek aus­ge­lie­hen habe.

Liest sich von An­fang an weg wie sonst­was, ob­wohl die in den USA spie­len­de Ge­schich­te ziem­lich de­pri­mie­rend ist: Ei­ne Frau, die meh­re­re Spra­chen stu­diert und sich da­für hoch ver­schul­det hat, schlägt sich müh­sam mit Jobs als Kell­ne­rin durch, um ih­re Schul­den ab­zu­zah­len und ih­ren Ro­man fer­tig schrei­ben zu können.

Im Ge­päck hat sie au­ßer­dem ei­ne zu Bruch ge­gan­ge­ne gro­ße Lie­be und ei­ne Rei­he an­de­rer zer­bro­che­ner Be­zie­hun­gen. Die Schrift­stel­le­rei läuft eher am Ran­de mit, erst ge­gen Schluss ent­fal­tet sie ih­re Be­deu­tung. Über­haupt kein ty­pi­scher Schrift­stel­ler­ro­man. Wahr­schein­lich hat er mich ge­nau des­halb ge­packt. Tol­les Buch bis zur letz­ten Seite.

C.H. Beck Ver­lag, Mün­chen 2020
ISBN 9783406756986
319 Sei­ten


Ra­pha­e­la Edel­bau­er: Das flüs­si­ge Land

Ich hat­te ge­hofft, ihr neu­es­tes Buch in der Stadt­bi­blio­thek aus­lei­hen zu kön­nen, aber im Re­gal stand nur ihr De­but Das flüs­si­ge Land. Al­so ha­be ich das mit­ge­nom­men. Die wahr­schein­lich ver­rück­tes­te Ge­schich­te, die ich 2024 lese.

Die Ich-Er­zäh­le­rin ist theo­re­ti­sche Phy­si­ke­rin und lebt in Wien, als ih­re El­tern bei ei­nem Au­to­un­fall ums Le­ben kom­men. Der Tod der El­tern ist für sie der An­stoß, nach Groß Ein­land zu fah­ren, den Ort, in dem ih­re El­tern groß­ge­wor­den sind und wo sie sich sehr oft auf­ge­hal­ten ha­ben. Die Merk­wü­dig­kei­ten be­gin­nen schon auf dem Weg nach Groß Ein­land, das par­tout nicht zu fin­den ist. Schließ­lich lan­det sie zu­fäl­lig in ei­nem Ort, von dem sich dann her­aus­stellt, dass es sich um Groß Ein­land handelt.

Die Er­de un­ter die­sem Ort ist durch­zo­gen von ei­nem chao­ti­schen Netz aus Stol­len, die seit Jahr­hun­der­ten völ­lig un­ko­or­di­niert an­ge­legt wer­den, um Sil­ber und an­de­re Bo­den­schät­ze (weiß nicht mehr, wel­che – gut mög­lich, dass es auch nir­gends klar ge­sagt wird) aus­zu­beu­ten. Die­se Stol­len bre­chen nun nach und nach ein. Vie­le Häu­ser ha­ben Ris­se und schlim­me­re Schä­den, es gibt Plät­ze im Ort, die so ab­ge­sackt sind, dass man sie nicht mehr über­que­ren kann. Statt­des­sen geht man ein­fach am Rand vor­bei. Man ar­ran­giert sich mit den Schä­den und tut so, als sei das al­les ganz normal.

Zum Ort ge­hört auch ei­ne Art Schloss, in der ei­ne Grä­fin lebt. Die­se Grä­fin ist die heim­li­che Herr­sche­rin des Or­tes – und die Or­ga­ni­sa­to­rin des gro­ßen Schön­re­dens und Schön­rech­nens, für das sie ei­ni­ges an Per­so­nal ein­ge­stellt hat. Schließ­lich über­re­det sie die Ich-Er­zäh­le­rin, ei­ne Stel­le in ih­rem Team an­zu­neh­men und ei­nen Stoff zu ent­wi­ckeln, mit dem man die Stol­len ver­fül­len kann.

Ob­wohl die Ich-Er­zäh­le­rin die gan­ze Zeit ei­ne kri­ti­sche Di­stanz wahrt, wird sie zu­gleich auch zu ei­nem Räd­chen im Ge­trie­be. Ir­gend­wann be­zieht sie das Haus ih­rer Groß­el­tern, das mehr und mehr in Schief­la­ge ge­rät, und wie al­le an­de­ren auch will sie ihr Haus wi­der bes­se­ren Wis­sens nicht auf­ge­ben. Sie bleibt jah­re­lang im Ort und merkt über­haupt nicht, wie die Zeit ver­geht, zu­mal es ein paar Din­ge gibt, die sie un­be­dingt her­aus­fin­den will, et­wa was mit den 750 Zwangs­ar­bei­te­rIn­nen pas­siert ist, die vor ein paar Jahr­zehn­ten in den Stol­len ar­bei­ten mussten.

Sehr ori­gi­nel­le Ge­schich­te, gut ge­schrie­ben. Ich hab’s sehr gern ge­le­sen, auch wenn ich zum Schluss ein paar Sei­ten über­schla­gen ha­be, weil es mir zu vie­le De­tails waren.

Klett-Cot­ta Ver­lag, Stutt­gart 2019
ISBN 9783608964363
350 Sei­ten


Fort­set­zung der Le­se­per­len folgt.


Die nächste Schreibwerkstatt

Die Gelegenheit, deinen guten Schreibvorsätzen einen leichten und beschwingten Startstupser zu geben.


Mittwoch, 26.02.25
Donnerstag, 27.02.25


jeweils 19-20.30 Uhr online

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