Nichts ist je­mals wirk­lich zu­en­de - Ali­ce Munro

2013 wur­de die ka­na­di­sche Schrift­stel­le­rin Ali­ce Mun­ro mit dem Li­te­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­net. Da­mit war sie die erst zwölf­te Frau, die den höchs­ten Li­te­ra­tur­preis er­hielt (in­zwi­schen ist der Preis an ins­ge­samt 17 Frau­en ver­lie­hen wor­den – ne­ben 102  Män­nern). Nun ist sie im Al­ter von 92 Jah­ren ge­stor­ben. An­läss­lich ih­res To­des möch­te ich an ihr 1968 er­schie­ne­nes Erst­lings­werk Tanz der se­li­gen Geis­ter erinnern. 


Cover-Bild Alice Munro, Tanz der seligen Geister (Dörlemann)

Mit Mut und fei­nem Gespür


Un­ter dem Ti­tel Dance of the Shadows war die­ser Band mit 15 Er­zäh­lun­gen erst­mals 1968 ver­öf­fent­licht und gleich mit dem Go­ver­nor General’s Award be­dacht wor­den. Die­ser Aus­zeich­nung folg­ten im Lau­fe der Jah­re zahl­rei­che wei­te­re na­tio­na­le und in­ter­na­tio­na­le Li­te­ra­tur­prei­se, un­ter an­de­ren 2009 den Man Boo­ker In­ter­na­tio­nal Pri­ze für ihr Lebenswerk.

2010 – 42 Jah­re nach sei­ner Erst­ver­öf­fent­li­chung – er­schien der Tanz der se­li­gen Geis­ter end­lich auch auf Deutsch. Der Schwei­zer Dör­le­mann Ver­lag mit sei­nem fei­nen Ge­spür für li­te­ra­ri­sche Per­len hat­te es ge­wagt, Mun­ros ers­ten Band mit Er­zäh­lun­gen über­set­zen zu las­sen und in ei­ner wun­der­schön ge­stal­te­ten Aus­ga­be herauszubringen.

Die Ver­öf­fent­li­chung war 2010 tat­säch­lich mu­tig, zu­mal für ei­nen so klei­nen Ver­lag wie den Dör­le­mann Ver­lag, denn Ali­ce Mun­ro wur­de in Li­te­ra­tur­krei­sen zwar schon lan­ge als An­wär­te­rin für den Li­te­ra­tur­no­bel­preis ge­han­delt, war im deutsch­spra­chi­gen Raum je­doch noch ein ech­ter Ge­heim­tipp. Ab­ge­se­hen von ei­nem ein­zi­gen Ro­man (Klei­ne Aus­sich­ten, 1971) hat Ali­ce Mun­ro aus­schließ­lich Kurz­ge­schich­ten ver­öf­fent­licht, ein Gen­re, das es bei uns völ­lig zu Un­recht sehr schwer hat.

Der Dör­le­mann Ver­lag wur­de je­doch be­lohnt: Die ers­te Auf­la­ge war sehr schnell ver­grif­fen und die Fi­scher Ver­la­ge er­war­ben die Li­zenz für die Ta­schen­buch­aus­ga­be, die 2011 er­schien und seit­dem meh­re­re Auf­la­gen er­lebt hat.

Cover Fischer, Tanz der seligen Geister

Streif­zug durch das Buch


Im Be­reich der Kurz­ge­schich­te, so Jo­na­than Fran­zen in ei­nem ZEIT-In­ter­view, ha­be ha­be Ali­ce Mun­ro so­gar An­ton Tschechow über­trof­fen. Die­se Meis­ter­schaft zeigt sich be­reits in ih­rem Debut.

Wie vie­le ih­rer Er­zäh­lun­gen spie­len auch die 15 Ge­schich­ten die­ses Ban­des im länd­li­chen Raum der ka­na­di­schen Pro­vinz On­ta­rio, wo Ali­ce Mun­ro auf­wuchs. Wäh­rend ih­re spä­te­ren Wer­ke sich zu­meist um Frau­en im mitt­le­ren Al­ter dre­hen, geht es im Tanz der se­li­gen Geis­ter um Kind­heit, Ju­gend und jun­ges Er­wach­se­nen­le­ben; an­ge­sie­delt in der Zeit von den 1930er bis zu den 1960er Jah­ren. Es ist ei­ne ärm­li­che und schein­bar in sich ge­schlos­se­ne Welt, na­men­lo­se Wei­ler oder ei­ne Klein­stadt mit dem un­pas­send er­schei­nen­den Na­men Ju­bi­lee, mit der man sich nach ei­ner Wei­le sehr ver­traut fühlt, oh­ne dass man je das Ge­fühl von Fremd­heit voll­kom­men verliert.

Am­bi­va­len­te Er­fah­run­gen ma­chen auch die Haupt­fi­gu­ren – meist Mäd­chen oder jun­ge Frau­en – in den Er­zäh­lun­gen. Äu­ßer­lich er­zählt Ali­ce Mun­ro kei­ne Sen­sa­tio­nen, für die Haupt­fi­gu­ren je­doch sind dies Schlüs­sel­sze­nen ih­res Le­bens, in der sie sich et­wa der Kom­ple­xi­tät von Ge­schlech­ter­rol­len und so­zia­len Be­zie­hun­gen be­wusst wer­den oder Brü­che in ih­rer fest­ge­füg­ten Welt erfahren.

Ein elf­jäh­ri­ges Mäd­chen zieht sich nach dem Tod ei­nes Pfer­des aus der bis da­hin be­vor­zug­ten männ­li­chen Welt des Va­ters zu­rück, zwei Schwes­tern se­hen sich nach vie­len Jah­ren in ih­rer Hei­mat­stadt wie­der, ei­ne 13-Jäh­ri­ge er­lebt ih­ren ers­ten Rausch, ei­ne Grup­pe neu zu­ge­zo­ge­ner, wohl­an­stän­di­ger Fa­mi­li­en will ei­ne Alt­ein­ge­ses­se­ne und ihr her­un­ter­ge­kom­me­nes An­we­sen los­wer­den, ei­ne Groß­mutter stirbt, ein Han­dels­ver­tre­ter nimmt sei­ne bei­den Kin­der auf ei­ne sei­ner täg­li­chen Fahr­ten mit.

In Tanz der se­li­gen Geis­ter, der letz­ten Er­zäh­lung des Ban­des, ver­an­stal­tet die Kla­vier­leh­re­rin Miss Mar­sal­les wie je­des Jahr ein Fest für ih­re Schü­ler und Schü­le­rin­nen samt ih­ren El­tern. Doch Miss Mar­sal­les wird alt, die Kin­der spie­len von Jahr zu Jahr schlech­ter vor, das Buf­fet wird im­mer un­ap­pe­tit­li­cher und die Ge­schen­ke, die Miss Mar­sal­les ver­teilt, möch­te ei­gent­lich nie­mand mehr an­neh­men. Den­noch folgt man auch die­ses Jahr ih­rer Ein­la­dung zum Fest, auf dem al­les sei­nen ge­wohn­ten Gang geht, bis ge­gen En­de ei­ne Grup­pe be­hin­der­ter Kin­der er­scheint und ein Mäd­chen aus die­ser Grup­pe so er­grei­fend schön Kla­vier spielt, dass das Pu­bli­kum voll­kom­men kon­ster­niert ist und die Ich-Er­zäh­le­rin kom­men­tiert: „Miss Mar­sal­les hat mit so et­was kei­ne Pro­ble­me, aber an­de­re Men­schen, Men­schen, die in der Welt le­ben, ha­ben da­mit sehr wohl welche.“


Wer oder was ist normal?


Wer lebt hier in der Welt? Wer oder was ist nor­mal? Bei Ali­ce Mun­ro sind es oft die­je­ni­gen, die auf den ers­ten Blick be­fremd­lich oder gro­tesk wir­ken, die schein­bar Schwa­chen, die Au­ßen­sei­ter, die oh­ne Scheu­klap­pen durch die Welt ge­hen und ge­gen die Re­geln verstoßen.

Ge­gen Grund­sät­ze zu ver­sto­ßen, ist auch Ali­ce Mun­ro nicht fremd, je­den­falls nicht beim Schrei­ben. Viel­fach bricht sie die Re­geln der Kurz­ge­schich­te: Am An­fang be­kommt man meist kei­ne oder nur ver­steck­te Hin­wei­se dar­auf, wor­um es ei­gent­lich geht. Man­che Sto­ries brau­chen ei­ne ge­rau­me Wei­le, um in Gang zu kom­men. Sie baut Ab­schwei­fun­gen ein, die da­zu füh­ren, dass die Ge­schich­ten ganz lei­se, fast un­be­merkt, ei­ne an­de­re Rich­tung ein­schla­gen. Ein ‚or­dent­li­ches’ En­de fin­det sich sel­ten, eher bleibt man mit ei­nem Grü­beln oder mit dem va­gen Ein­druck zu­rück, die Welt sei ei­ne un­ge­ord­ne­te An­ge­le­gen­heit und nichts sei je­mals wirk­lich zuende.


Prä­zi­se, oh­ne sich in De­tails zu verlieren


Die ru­hi­ge, un­be­irr­ba­re, ge­nau hin­schau­en­de Be­ob­ach­te­rin Ali­ce Mun­ro er­zählt prä­zi­se, oh­ne sich in De­tails zu ver­lie­ren. Sie tut dies in ei­ner schnör­kel­lo­sen, poe­ti­schen Spra­che, die schüch­tern ge­blüm­te Ta­pe­ten und kö­nig­li­che Ver­dros­sen­heit kennt; Hei­di Zer­ning hat sie kon­ge­ni­al ins Deut­sche über­setzt.

In „Ein Gläs­chen Me­di­zin“ be­schreibt die ju­gend­li­che Ich-Er­zäh­le­rin ih­ren ers­ten Rausch: „Ich knips­te ei­ne Steh­lam­pe ne­ben dem Ses­sel an und das Zim­mer fiel über mich her. […] Ich hat­te mir ei­nen gro­ßen see­li­schen Um­schwung vor­ge­stellt, ei­ne Auf­wal­lung von Hei­ter­keit und Leicht­sinn, ein Ge­fühl von Ge­setz­lo­sig­keit und Flucht, be­glei­tet von leich­tem Schwin­del und viel­leicht von ei­ner Nei­gung, laut zu ki­chern. Ich hat­te mir nicht vor­ge­stellt, dass die De­cke sich dre­hen wür­de wie ein gro­ßer Tel­ler, den je­mand nach mir ge­wor­fen hat­te, oder dass die blass­grü­nen Kleck­se der Ses­sel an­schwel­len, mit­ein­an­der ver­schwim­men und sich auf­lö­sen wür­den und mit mir ein Spiel voll un­ge­heu­rer, sinn­lo­ser, un­be­leb­ter Bos­heit trei­ben würden.“



Fast wie ein lo­se kon­stru­ier­ter Roman


Am En­de des Bu­ches hat man das un­be­stimm­te Ge­fühl, dass al­le Er­zäh­lun­gen ir­gend­wie zu­sam­men­hän­gen, und in der Tat kom­men ei­ni­ge Per­so­nen und Or­te in meh­re­ren Ge­schich­ten vor. Man­che Kri­ti­ker be­haup­ten des­halb auch, bei Ali­ce Mun­ros Er­zähl­bän­den han­de­le es sich um sehr lo­se kon­stru­ier­te Ro­ma­ne. Das weist die Au­torin strikt zu­rück, sie schrei­be de­fi­ni­tiv Short Stories.

Wie im­mer man die­se Wer­ke nen­nen mag: Sie sei­en den­je­ni­gen, die noch nichts von Ali­ce Mun­ro ge­le­sen ha­ben, un­be­dingt emp­foh­len. Wer sie da­ge­gen schon kennt, wird es wahr­schein­lich be­dau­ern, dass kei­ne neu­en Ge­schich­ten von ihr mehr zu er­war­ten sind.



Ali­ce Mun­ro: Tanz der se­li­gen Geis­ter. Er­zäh­lun­gen.
Über­setzt aus dem Eng­li­schen von Hei­di Zer­ning
Dör­le­mann Ver­lag, Zü­rich 2010
384 S.
ISBN 978−3−908777−55−7

Ali­ce Mun­ro: Tanz der se­li­gen Geis­ter. Er­zäh­lun­gen.
Über­setzt von Hei­di Zer­ning
Fi­scher Ta­schen­buch, Ber­lin 2013
384 S.
ISBN: 978−3−596−18875−8

Ich emp­feh­le, das Buch in der ört­li­chen Buch­hand­lung zu be­stel­len oder
über den so­zia­len Ver­sand­buch­han­del buch7, der 75% sei­ner Ge­win­ne an so­zia­le Pro­jek­te spen­det. Funk­tio­niert ge­nau­so schnell, rei­bungs­los und zu­ver­läs­sig wie bei den markt­be­herr­schen­den An­bie­tern. (Dies ist kein Af­fi­lia­te-Link, ich be­kom­me selbst­ver­ständ­lich kei­ne Pro­vi­si­on dafür.)


Die nächste Schreibwerkstatt

Entspannt und inspriert schreiben in einer netten Gruppe - 

und hinterher ganz zufrieden sein, dass aus deinen guten Schreibvorsätzen Text geworden ist.


Mittwoch, 30.07.25
Donnerstag, 31.07.25


jeweils 19-20.30 Uhr online

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