Erinnerungen sind der Stoff, aus dem eine Autobiografie gemacht ist. Wenn man autobiografisch schreibt (oder schreiben möchte), muss man sich keinen Plot ausdenken, keine Welten konstruieren und keine Figuren gestalten, doch über seinen Stoff sollte man auch beim autobiografischen Schreiben einiges wissen.
Die Hirnforschung hat seit Einführung bildgebender Verfahren enorme Fortschritte gemacht. Wir wissen heute eine schiere Menge darüber, wie das menschliche Gehirn funktioniert. In diesem Beitrag möchte ich ein Schlaglicht auf die Erkenntnisse der Erinnerungsforschung (ein Teilgebiet der Hirnforschung) werfen, die fürs autobiografische Schreiben besonders interessant und nützlich sind.
Für alle, die tiefer in die Materie einsteigen wollen, füge ich am Ende des Beitrags einige weiterführende Links an.
Hat das Hirn ein Archiv für unsere Erinnerungen?
Der Sitz der Erinnerung sei die Seele und in der Seele gebe es etwas wie Wachstafeln, in die unsere Erinnerungen eingraviert werden, schreibt Platon im 5. Jahrhundert v. Chr.
Diese Idee ist bis heute weit verbreitet. Die modernisierte Vorstellung benutzt als Bild allerdings meist ein Aufnahmegerät: Ein Ereignis wird erlebt und dann so, wie es erlebt wurde, als 1:1-Aufnahme im Erinnerungsarchiv unseres Gehirns abgespeichert. Dort überdauert es gut konserviert und kann bei Bedarf wieder hervorgeholt werden.
Doch nicht einmal ein analoges Archiv funktioniert derart zuverlässig. ArchivarInnen müssen enorm viel Mühe und Know-how darauf verwenden, alte Dokumente, Bilder, Filme etc. vor Säure- und Insektenfraß, vor Schimmelpilzen, Feuchtigkeit und altersbedingtem Zerfall zu bewahren – und zwar jedes einzeln Objekt immer wieder von Neuem.
Wie wir Erinnerungen tatsächlich speichern
Die Hirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten viele, viele bahnbrechende Erkenntnisse darüber gewonnen, wie das menschliche Gehirn funktioniert. So herrscht heute Einigkeit darüber, dass es sich beim Gedächtnis nicht um einen klar definierten Ort im Gehirn handelt, sondern um Strukturen, die als Netzwerke über das gesamte Gehirn verteilt sind.
Für das Verständnis von Erinnerung haben sich vier Hauptkategorien etabliert:
Das prozedurale Gedächtnis, in dem wir Bewegungsabläufe und Verhaltensroutinen speichern, sorgt dafür, dass wir uns an oft wiederholte Bewegungen automatisch erinnern. So beherrschen wir Bewegungen wie Schwimmen und Radfahren auch dann noch, wenn wir sie jahrzehntelang nicht ausgeführt haben. Vielleicht müssen wir uns dann wieder ein wenig daran gewöhnen, aber neu lernen müssen wir sie nicht. Auch viele Alltagsbewegungen laufen automatisch ab – nicht auszudenken, wenn wir jedes Mal wieder darüber nachdenken müssten, wie man einen Löffel benutzt.
Im semantischen Gedächtnis speichern wir unser erlerntes Wissen ab. Hier landet das all das Faktenwissen, das wir im Alltag, in Bildungseinrichtungen oder Selbststudium ansammeln. Man könnte auch sagen: Das semantische Gedächtnis enthält – verteilt über das gesamte Gehirn – das gesamte Weltwissen eines Menschen. Bei Bedarf werden seine Inhalte zusammengeführt.
Das perzeptuelle Gedächtnis ermöglicht es uns, einmal erkannte Muster wiederzuerkennen. So erkennen wir jeden Apfel als Apfel, auch wenn er sich in Details von allen anderen Äpfeln unterscheidet, die wir je gesehen haben. Das perzeptuelle Gedächtnis hilft uns z.B. auch, Menschen nach vielen Jahren wiederzuerkennen, obwohl sie sich verändert haben.
Das episodische Gedächtnis schließlich ist das Gedächtnis, das wir beim autobiografischen Schreiben vor allem befragen, denn hier speichern wir alle Ereignisse, die uns unmittelbar betreffen. Es ist die Struktur, in dem wir unsere persönliche Autobiografie aufbewahren, und das wichtigste System des Langzeitgedächtnisses für das Erleben der eigenen Persönlichkeit.
Der nächste Kurs
Autobiografisches Schreiben
beginnt am 17.05.25
- zwei Plätze gibt es noch
Von der Wahrnehmung ins Langzeitgedächtnis
Ganz grob kann man den Vorgang des Erinnerns so beschreiben:
Alle Wahrnehmungen landen zunächst im Ultrakurzzeitgedächtnis, wo sie höchstens 2 Sekunden bleiben. In dieser Zeit entscheidet das Gehirn, welche Eindrücke wichtig sind und welche nicht. Die unwichtigen Wahrnehmungen verblassen und verschwinden, die wichtigen kommen ins Kurzzeitgedächtnis.
Im Kurzzeitgedächtnis werden die Informationen innerhalb weniger Minuten bewertet und eingeordnet. Was als wichtig eingestuft wird, gelangt ins Langzeitgedächtnis – und nur wenn es dort eine Nacht Schlaf bekommt, wird es zuverlässig und langfristig abgespeichert.
Rosinen fürs Gehirn
Aus der riesigen Menge an Informationen pickt das Gehirn sich gewissermaßen die Rosinen heraus, die es bereit ist, aufzubewahren. Wobei die Rosinen gar nicht lecker sein müssen, sie müssen sich nur vom Alltagsrauschen abheben oder für uns persönlich oder emotional wichtig sein.
Abgespeichert und aufbewahrt werden vor allem besondere Momente, sogenannte Peak- oder Schlüsselmomente:
Neues, erstmalige Ereignisse und Erfahrungen ab. Der erste Kuss, der erste Schultag, eine erste Gipfelbesteigung usw. werden mit großer Wahrscheinlichkeit abgespeichert, denn das Gehirn mag Neues, Einzigartiges ganz besonders gern. Der 300ste Kuss, der 1.000ste Schultag ist dagegen ziemlich langweilig, er wird zum Alltagsrauschen gezählt, nichts Besonderes, kommt in den dunklen Keller.
Momente, die hervorstechen, wie etwa eine bestandene Prüfung oder der Händedruck von einem speziellen Menschen. Wenn wir uns später an diesen Moment erinnern, überstrahlt er das gesamte Ereignis. Die monatelange Paukerei, das stundenlange Schlangestehen sind dagegen nicht mehr präsent.
Auch tragische Momente gehören in diese Kategorie. So können etwa heute noch sehr viele Menschen ohne nachzudenken sagen, wo sie waren und was sie gemacht haben, als sie von den Ereignissen des 11. September 2001 erfuhren.
Das Ende oder das letzte Mal von irgendetwas: Das Ende einer langen Beziehung, der Abschied von einem Ort, einem Arbeitsplatz, die letzte Begegnung mit einem anderen Menschen vor seinem Tod und dergleichen mehr. Diese letzten Momente bestimmen die Erinnerung daran oft so sehr, dass beispielsweise 20 gute Beziehungsjahre neben dem zermürbenden Ende vollkommen verblassen.
Autobiografie ist Autofiktion
Die Erinnerungsforschung als eins ihrer Teilgebiete hat in vielen Studien zeigen können, dass wir unsere Erinnerungen mit ganz neuen Augen betrachten müssen: Unsere Erinnerungen verändern sich ständig, und zwar vom ersten Moment an, in dem wir sie abspeichern.
Wir erleben die Dinge, Ereignisse, Begegnungen nicht so, wie sie sind, sondern wie wir sie verstehen. Und so speichern wir die Erinnerungen daran auch ab. Jede Erinnerung bekommt demnach schon gleich einen Anstrich, eine Tendenz, eine subjektive Geschichte mit.
Im Laufe der Zeit machen wir neue Erfahrungen, ändern unsere Sicht auf die Dinge, vergessen Details, zugleich kommen täglich neue hinzu. Schicksalsschläge, Krankheiten, Erfolge, Stress, Weltereignisse … – all das wirkt auch auf unsere Erinnerungen ein und verändert sie nach und nach.
Die amerikanische Psychologie-Professorin Elizabeth Loftus, die seit über 30 Jahren die menschliche Erinnerung erforscht, verwendet gerne folgenden Vergleich:
Erinnerungen, sagt Elizabeth Loftus, sind ein bisschen wie eine Wikipedia-Seite:
Man kann sie abrufen und Änderungen vornehmen, andere allerdings auch.
In ihrem TED-Vortrag Die Fiktion der Erinnerung bringt E. Loftus zahlreiche Beispiele dafür, wie sich Erinnerungen verändern und welche Auswirkungen das haben kann.
Eins ihrer Beispiele handelt von unschuldig verurteilten Gefängnisinsassen in den USA:
Im Rahmen eines Projektes in den USA wurden Informationen über 300 unschuldige Menschen gesammelt, 300 Beklagte verurteilt für Verbrechen, die sie nicht begangen hatten. Dennoch verbrachten sie 10, 20, 30 Jahre im Gefängnis, bis DNA-Tests nachweisen konnten, dass sie eigentlich unschuldig waren. Untersuchungen dieser Fälle zeigten, dass drei Viertel auf falschen Erinnerungen der Zeugen beruhten.
In späteren Studien haben Loftus und andere ForscherInnen gezeigt, dass und wie man Erinnerungen sogar im Nachhinein verzerren, verfälschen oder verändern kann – und dafür reichen unter Umständen schon Kleinigkeiten.
Autofiktion ist also der Begriff, der eigentlich viel genauer trifft, was eine Autobiografie schon immer war: Eine Mischung aus tatsächlich Erlebtem und dem, was sich – mit oder ohne bewusstes Zutun – daraus entwickelt (hat).
Was bedeutet die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen fürs autobiografische Schreiben?
Die meisten AutobiografInnen legen großen Wert darauf, den Menschen gerecht zu werden, die in ihrer Biografie vorkommen. Sie möchten Ereignisse und Entwicklungen so darstellen, wie sie tatsächlich waren. Leider funktioniert das nicht, wie wir inzwischen wissen.
Für AutobiografInnen ist die Arbeitsweise unseres Gedächtnisses also höchst unbefriedigend. Und doch bedeutet das Wissen um die Eigenschaften unserer Erinnerung zuerst einmal Entlastung:
Denn einen Anspruch, den man ohnehin niemals ganz erfüllen kann, kann man guten Gewissens entschärfen, ein Stück tiefer hängen, gelassener nehmen.
Wahrhaftigkeit ist das erreichbare Ziel
Die reine Wahrheit und Objektivität können wir also nicht erreichen. Was wir dagegen erreichen können, ist Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit meine ich hier im Sinne von Aufrichtigkeit, Offenheit, Transparenz.
Konkret heißt das:
Autobiografisches Schreiben ganz praktisch
Wenn du autobiografisch schreiben möchtest (oder schon angefangen hast) und nicht so recht weißt,
schau doch mal hier:
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Autobiografisches Schreiben
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Verwendete Literatur und weiterführende Links:
W. Stangl:
Online-Lexikon für Psychologie & Pädagogik:
(https://lexikon.stangl.eu/3128/semantisches-gedachtnis)
(https://lexikon.stangl.eu/14969/perzeptuelle-gedaechtnis)
(https://lexikon.stangl.eu/809/episodische-gedaechtnis)
Elizabeth Loftus:
Die Fiktion der Erinnerung (mit deutschsprachigem Transkript zum Mitlesen)
Memory Malleability (mit englischsprachigem Transkript)
The Guardian (London):
Why your memories can’t be trusted (mit englischsprachigem Transkript)
ARD alpha:
Wie tickt unser Gedächtnis? (mit vielen Links zu weiteren Beiträgen und Sendungen)
Laura Geigenberger:
Was passiert eigentlich im Gehirn? (über die Grundlagen des Lernens)
Volker Busch:
Falsche Erinnerungen – Warum wir unserem Gedächtnis misstrauen sollten (weitere Informationen auch auf der Webseite www.drvolkerbusch.de)