Direkt hinein in die Geschichte: Wie man einen guten Textanfang schreibt

Mit den ersten Sätzen direkt hinein in die Geschichte

Um den ersten Satz eines Textes ranken sich so viele Mythen, dass man denken könnte, dieser eine Satz wäre der Dreh- und Angelpunkt einer Geschichte. Doch wozu 5 oder 100 oder 300 Seiten lesen, wenn der erste Satz ein solches Gewicht hat?  Natürlich gibt es geniale erste Sätze wie in Kafkas Die Verwandlung oder Tolstois Anna Karenina. Einen solchen Satz zu finden, ist ein großes Geschenk, aber eine unverzichtbare Voraussetzung für einen guten Einstieg in eine Geschichte ist er nicht.

Es sind vielmehr die ersten Sätze gemeinsam, die eine Angel auswerfen und zum Weiterlesen verführen (meist ist das zugleich der erste Absatz). Und wie schaffen sie das? Indem sie unmittelbar in die eigentliche Geschichte hinein­führen – ohne lange Vorgeschichte und Erklärungen. Die Aufgabe der Anfangssätze besteht vor allem darin, eine erste Orientierung zu geben und neugierig zu ma­chen.


Orientierung

Zur Orientierung sollte in den ersten Sätzen mindestens eine der folgenden Fragen beantwortet werden:

  • Wo befinden wir uns?
  • Wer ist die Hauptfigur?
  • Wann spielt die Geschichte?
  • Wie ist die Stimmung/die Atmosphäre?
  • Aus welcher Perspektive wird die Geschichte erzählt?
  • Worum geht es?

Oft reicht es zur ersten Orientierung vollkommen aus, nur eine oder zwei dieser Fragen zu beantworten. Das kann ganz beiläufig geschehen. Auf keinen Fall sollte man weit aus­holen oder ins Detail gehen, denn damit erschlägt man leicht die Neugier.


Neugier wecken

Um die Neugier zu wecken, gibt es sehr viele verschiedenen Möglichkeiten: Handlungen, of­fene Fragen, Unerwartetes, aber auch die Wirkung einer Atmosphäre, ein unerklärliches Detail etc. führen dazu, dass die Leserin, der Leser sich Fragen stellt: Warum macht er das? Wie konn­te das passieren? Wieso treffen die beiden sich ausgerechnet hier? etc.



Verschiedene Möglichkeiten für einen guten Textanfang

In den folgenden Vorschlä­gen und Beispielen treten die beiden Elemente Neugier wecken und Orien­tie­rung geben häufig gemeinsam auf.


1. Mit dem Unerwarteten beginnen

In den ersten drei Beispielen tritt das Unerwartete äußerst spektakulär auf. Etwas leisere Töne tun es auch, wie das letzte Beispiel zeigt. Es kommt vor allem darauf an, die Erwartung der Le­serin, des Lesers zu unter­laufen. Unerwartetes findest du beispielsweise, wenn du dir überlegst, was man nach dem Titel wohl erwarten würde – und dann schlägst du eine andere Richtung ein.

Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen gerade dreizehn, als Winston Smith, das Kinn an die Brust gepresst, um dem rauen Wind zu entgehen, rasch durch die Glas­­türen eines der Häuser des Victory-Blocks schlüpfte …

George Orwell, 1984

Blumenberg hatte gerade eine neue Kassette zur Hand genommen, um sie in das Aufnahme­gerät zu stecken, da blickte er von seinem Schreibtisch auf und sah ihn. Groß, gelb, atmend; unzweifelhaft ein Löwe.

Sibylle Lewitscharoff, Blumenberg

Es war der Tag, an dem meine Großmutter explodierte.

Iain Banks, The Crow Road

Ich plante meinen Tod mit Bedacht – anders als mein Leben, das, trotz meiner lahmen Versuche, es unter Kontrolle zu bringen, dauernd auf Abwege geriet.

Margaret Atwood, Lady Orakel

2. Mitten in einer Handlung beginnen

Mitten in einer Handlung zu beginnen, ist sehr wirkungsvoll, um die LeserInnen direkt in die Geschichte hineinzuziehen und Spannung zu erzeugen. Der Herr der Fliegen von William Gol­ding ist ein klassisches Beispiel für einen solchen Einstieg. Golding beginnt mit einem Jun­gen, der einen beschwerlichen Weg zum Meer hinuntersteigt. Dass der Junge zu einer grö­ßeren Grup­­pe gehört, wie sie auf die Insel gekommen sind und was sie dort tun, folgt erst nach und nach.

Ein solcher Einstieg führt zunächst auf unsicheres Terrain, denn man bekommt keine oder sehr wenig Orientierung über Raum, Zeit und Umstände.  Die Handlung muss also so neu­gierig ma­chen, dass man bereit ist, auf wichtige Informationen zu warten.

Der blonde Junge ließ sich vorsichtig das letzte Stück die Felsen hinunter und suchte sich einen Weg zur Lagune. Zwar hatte er den Pullover seiner Schuluniform ausgezogen und schleifte ihn nun hinter sich her, doch das graue Hemd klebte noch an seinem Körper und die schweißnassen Haare waren angeklatscht. Die lange, in den Dschungel gerissene Schneise um ihn herum war ein Meer aus Hitze. Er kämpfte sich durch die Schlingpflanzen und umgestürzten Bäume voran. Ein Vogel, ein Blitz aus Rot und Gelb, flatterte mit einem Hexenschrei auf; ein zweiter Vogel erwiderte den Schrei.

William Golding, Der Herr der Fliegen

3. Mit einem Dialog beginnen

Mit einem Dialog zu beginnen, ist eine andere Möglichkeit, um mitten ins Geschehen einzu­steigen. Dieser Einstieg wird recht selten gewählt – und kann deshalb besonders frisch und originell wirken.

„Guten Morgen, Sir. Wie geht es Ihnen?“ „Gut“, sagte ich. Was sogar der Wahrheit entsprach.

Kristof Magnusson, Das war ich nicht

„Kranich, Englisch, Deutsch“, sagte ich und reichte dem Mann die Hand. „Strubel“, hustete er und fügte hinzu: „Schulschlüsselsonderbeauftragter.“ Ich nickte.

Markus Orths, Hirngespinste

Freitag, den 4. Mai 1945
Wir saßen im Port Arthur und Benno sagte: „Die Revolution wird also um unbestimmte Zeit verschoben.“
„Tja“, sagte ich und schob mir das Blättchen in den Mund. „Aus rein technischen Gründen, was?“ Das Bambusblättchen schmeckte wie immer angenehm. Ich spielte schon deshalb gern Tenorsax, weil man so angenehm daran saugen konnte.

Josef Škvorecký, Feiglinge

4. Mit kurzen, prägnanten Sätzen beginnen

Kurze, prägnante Sätze sind ausgezeichnete Türöffner. Sie sind schnell zu erfassen, so dass man sich sicher fühlt: Hier wird Klartext gesprochen, hier gibt es gut verständliche Sätze. Sie sind ein bisschen wie kleine Häppchen, die herumgereicht werden: Selbst diejenigen, die überzeugt waren, dass sie bestimmt nichts mehr essen, greifen doch zu, wenn die Häppchen nur appetitlich oder interessant genug sind. Und so lesen wir auch weiter, wenn der erste Satz philosophisch klingt oder in ihm so etwas Merkwürdiges wie ein Hobbit vorkommt (oder gerade deshalb).

In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit.

 J.R.R. Tolkien, Der Hobbit oder Hin und zurück

Der Tag, an dem Karl starb, war ein guter Tag.

Thomas Raab, Still

Mit dem ersten Anflug des Morgens wurden die Fliegen munter.

Charles Frazier, Unterwegs nach Cold Mountain

Die Zeit ist eine blinde Führerin.

 Anne Michaels, Fluchtstücke

Alles war ein großes Durcheinander, vor allem im Dunkeln.

 Jane Smiley, Die Scheune im Schatten

Der Anzug war nicht schwarz. Nicht wirklich.

 Ralf Rothmann, Milch und Kohle

5. Eine Frage aufwerfen

Eine Frage kann eine raffinierte Eröffnung einer Geschichte sein. Dabei muss es sich nicht um eine Frage im engeren wörtlichen Sinn handeln, es kann auch eine indirekte Frage sein, ja sogar eine poetische oder abstrakte Formulierung. Wichtig ist nur, dass der Leser, die Leserin eine kleine Verletzung wahrnimmt, wie angeritzt vielleicht. Sie kann nur geheilt werden, wenn man eine Antwort auf die aufgeworfene Frage findet – und dafür muss man weiterlesen.

Es war ein verrückter, schwüler Sommer, dieser Sommer, in dem die Rosenbergs auf den elektrischen Stuhl kamen und ich nicht wusste, was ich in New York eigentlich wollte.

Sylvia Plath, Die Glasglocke

So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.

Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

Die Berge überragen Leben und Tod und die paar Häuser, die sich auf der Landzunge zusam-mendrängen. Wir leben auf dem Grund einer Schüssel, der Tag geht vorüber, es wird Abend, die Schüssel läuft langsam voll Dunkelheit, und dann leuchten die Sterne auf. Ewig blinken sie über uns, als hätten sie eine wichtige Botschaft, aber welche und für wen? Was wollen sie von uns, oder vielleicht eher noch: Was wollen wir von ihnen?

Jón Kalman Stefansson, Himmel und Hölle

Mein Vater handelte mit Briefmarken – jedenfalls dachten das meine Mutter und ich.

 Arnon Gründberg, Blauer Montag

Was also ist der Augenblick? Wie sieht er aus? Was ist seine Gestalt und wann tritt er ein, dieser Augenblick, der kein Augenblick und doch alles ist, und warum entschlüpft er ihr ein ums andere Mal?

 Yael Hedaya, Eden

Wieder einmal versuche ich, alles der Reihe nach zu erzählen. Und wieder einmal zweifle ich, ob eine solche Beichte wirklich notwendig ist. Manchmal denke ich an diese Jahre zurück, in denen ich noch Ideen hatte, Gewissheiten und den Glauben. Heute sehe ich in jeder Wahrheit einen Widerspruch. Jede Sicherheit ist für mich Wahnsinn. Jede Überzeugung Fanatismus. Die Extremisten werden mich für verrückt erklären, die Radikalen für dumm.

 Calixthe Beyala, Wilde Liebschaften

6. Mit einer Sinnesempfindung beginnen

Alle Menschen haben Erfahrungen mit Sinnesempfindungen – sehen, hören, spüren, schmecken, riechen – und können deshalb leicht mitgehen, wenn ein oder mehrere Sinne angesprochen werden. Mit Sinnesempfindungen zu Beginn einer Geschichte kann man eine ganz besondere Atmosphäre schaffen, die die LeserInnen unmittelbar in Kontakt mit der Welt der Figuren bringt.

Starker Rosenduft durchströmte das Atelier, und als ein leichter Sommerwind die Bäume im Garten hin und her wiegte, kam durch die offene Tür der schwere Geruch des Flieders oder der feinere Duft des Rotdorns.

 Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray

Das Zimmer war blau, blau in der Hauptsache, Teppiche und Wandbespannungen waren blau, Holzwerk und Türen cremefarben, und als Schmitt, der als Letzter eintrat, das Moos dieses uferlosen blauen Plüschs unter den Sohlen seiner italienischen Schuhe spürte, hielt er an, beugte sich hinab und berührte das Textil zärtlich.

 Erich Kuby, Rosemarie  Des Deutschen Wunders liebstes Kind

Das gleichmäßige Scharren eines harten Besens, begleitet vom langsamen Schlurfen viel zu großer Schuhe – damit beginnt der Morgen in der Parkstraße.

 Luise Rinser, Der Sündenbock

Ein kleines Forschungsprojekt für Dich

Jeder Mensch lernt ein bisschen anders, aber eins ist allen gemeinsam: Am nachhaltigsten ist das Lernen aus eigener Erfahrung, aus eigener Anschauung. Deshalb schlage ich Dir zum Schluss dieses Beitrags ein interessantes kleines Forschungsprojekt vor:

Lass Deinen Blick mal über die Bücher in Deinem Bücherregal schweifen. Welche haben Dir besonders gut gefallen, welche haben Dich vielleicht sogar unwiderstehlich in ihre Geschichte hineingezogen? Gibt es Bücher, die Du mehrmals gelesen hast? Nimm ohne allzu viel nachzudenken ein halbes Dutzend Bücher aus dem Regal und schau Dir in Ruhe die Anfänge an.
Erkennst Du eine der Möglichkeiten, die ich hier vorgestellt habe? Oder Varianten davon? Oder entdeckst Du noch ganz andere Arten von Texteinstiegen?

Je mehr Textanfänge Du Dir genau anschaust, umso mehr schärft sich Dein Blick für das, was gut oder nicht so gut funktioniert. Und dann heißt es: ausprobieren, experimentieren, varriieren, spielen …



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  • Hallo liebe Doroethee, danke für diesen schönen Beitrag. Sehr anschaulich beschrieben mit tollen Beispielen! Ich wollte dir 5 Sterne dafür drücken, aber das mit den Sternchen geht bei mir glaub nicht so. Also falls du ein paar 1-Sternchen-Bewertungen bekommen hast, sind die (fälschlicherweise) von mir, die dir 5 Sternchen geben wollte. 🙂 Viele Grüße. Regina

  • Hallo Dorothee,

    zum Jahresanfang ist der Artikel über erste Sätze für mich der richtige Impuls. Ich werde meine Krümmelmethode-Geschichte – vielen Dank für Deinen Tipp letztes Jahr – weiterentwickeln. Kleine Schritte, wenn der Riesensprung nicht in den persönlichen Zeitrahmen passen will….

    Dir ein gutes, erfolgreiches, gesundes Jahr!

    Vielleicht bis demnächst
    Petra Schmucker

    • Liebe Petra,
      wie schön, dass Du gleich zwei meiner Blog-Beiträge so gut als Kombination gebrauchen kannst.
      Ich hoffe, Du kommst Krümel für Krümel voran – und irgendwann gibt’s dann ein Fest mit Torte 😉
      Herzliche Grüße
      Dorothée

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